Ich wollte mein Leben mit Apps organisieren. Am Ende hatte ich sieben To-Do-Listen und keine Zeit. Ein ehrlicher Bericht über den Fetisch der Selbstoptimierung und wie ich aus der Falle entkommen bin.
Warum 17 Apps mein Leben nicht optimiert haben!
Es begann, wie so viele moderne Abstürze beginnt: mit einem YouTube-Video. „ULTIMATE PRODUCTIVITY HACK 2025 | 10.000 Dinge erledigt in 10 MINUTEN!“. Der Algorithmus, dieser aufmerksame, aber letztlich sadistische Kumpel, kannte meine Schwächen besser als ich. Ich klickte.
Drei Stunden später befand ich mich in einem Kaninchenbau aus Notion-Templates, Habit-Trackern und der unerschütterlichen Überzeugung, dass mein komplettes bisheriges Leben eine einzige, ineffiziente Katastrophe gewesen sein muss. Wenn ich nur das richtige System fände, dann würden die Essays sich von selbst schreiben, der Kühlschrank sich von selbst befüllen und ich würde endlich morgens um 5 Uhr aufwachen – lächelnd, versteht sich.
Phase 1: Der digitale Kreuzzug nach dem perfekten Workflow
Mein digitaler Kreuzzug startete mit der Todoist-App. Zu simpel. Ich brauchte was mit mehr Gewicht. Also ab zu TickTick. Mit Kalenderintegration! Einen Tag später entdeckte ich Things 3. Es war so schön designt, so clean. Das musste produktiv machen, allein durch sein Aussehen. Ich kaufte es. 80 Euro für die Mac- und die iOS-Version. Eine Investition in mich, redete ich mir ein.
Doch ein einfacher To-Do-List-Manager war nur der Anfang. Ich brauchte ein Second Brain zur umfassenden Organisation
meiner Projekte. Notion war die Antwort. Ich verbrachte ein Wochenende damit, eine Datenbank für meine Bücher, eine für Blog-Ideen, ein Life-Dashboard und einen „Content-Calendar“ zu bauen, der komplexer war als der Fahrplan der Deutschen Bahn (und genauso oft hinterherhinkte). Die Farbe der Hakenzeichen stimmte nicht mit meinem Blog-Design überein. Also nochmal von vorne.
Phase 2: Im Sumpf der Mikro-Optimierung
Die Produktivitäts-Apps allein reichten nicht. Sie mussten miteinander reden. Also verbrachte ich einen Mittwochabend damit, Zapier-Automationen einzurichten, die eine Aufgabe aus einer E-Mail automatisch in meinen Kalender packten, der dann eine Notification an meine Watch schickte, die mich aufforderte, die Aufgabe in einer anderen App zu priorisieren.
Mein größter Coup? Ein automatisiertes Skript, das alle 45 Minuten meinen aktuellen Tab schloss und mich fragte: „Bist du noch produktiv?“ Ich hasste es nach 20 Minuten. Das Skript war mein neuer Erzfeind.
Ich trackte meine Schlafphasen mit Sleep Cycle, meine Konzentrations-Sprints mit Forest (wo virtuelle Bäume starben, wenn ich auf mein Handy guckte) und protokollierte jede Tasse Kaffee in Bearable, um die perfekte Koffein-Kreativitäts-Kurve zu finden. Ich war so beschäftigt damit, mein Leben zu tracken
, dass ich keins mehr lebte.
Die große Ernüchterung: Vom Zeitmanagement zur Zeitverschwendung
Der Wendepunkt kam an einem Sonntagmorgen. Ich wollte endlich den Artikel schreiben, der mir seit Wochen im Kopf herumging. Ich öffnete meinen Laptop. Und dann passierte Folgendes:
Ich checkte erstmal meinen Notion-Life-Dashboard.
Ich aktualisierte meine „Wochenreview“ in einer separaten App.
Ich sortierte meine Todoist-Liste nach der Eisenhower-Matrix um.
Ich googelte nach der besten Pomodoro-App für Mac.
Die Hälfte des Tages war rum. Der Bildschirm war leer.
Ich hatte mich in der Meta-Arbeit verloren. Die Vorbereitung auf die Arbeit war zur Arbeit geworden. Der Fetisch der Optimierung hatte die eigentliche Tätigkeit vollständig verschlungen. Ich fühlte mich nicht wie ein High-Performer
, sondern wie der Assistent einer Maschine, die ich selbst gebaut hatte.
Die Gesellschaft der Selbstoptimierer
Das ist kein persönliches Versagen. Das ist ein kultureller Tick. Wir haben die protestantische Arbeitsethik genommen und sie mit Silicon Valley auf Steroiden gespritzt. Produktivität
ist nicht mehr Mittel zum Zweck – also Zeit zu sparen, um sie mit Familie, Hobbys oder Faulenzen zu verbringen. Sie ist zum Selbstzweck verkommen. Zum Sport. Zum moralischen Wert.
Jede dieser Apps
verkauft uns nicht eine Lösung, sondern ein Gefühl: die Hoffnung auf Kontrolle in einer überfordernden Welt. Die Hoffnung, dass mit dem nächsten Update, der nächsten Methode endlich alles seinen Platz finden wird. Das ist der digitale Diät-Kult
. Es funktioniert immer morgen.
Mein bescheidener Ausstieg aus der Produktivitätsfalle
Ich habe nicht alle Apps gelöscht. Das wäre wieder nur eine extreme Optimierungs-Strategie. Aber ich habe radikal ausgemistet.
Ich benutze jetzt:
Einen Zettel und einen Stift für die drei wichtigsten Dinge des Tages.
Einen simplen Kalender für Termine.
Eine Datei für alle meine Blog-Ideen.
Manchmal vermisse ich den Kick, ein neues System zu entdecken. Dieses betäubende Gefühl von Potenzial, das vor dir liegt. Aber ich habe etwas anderes zurückgewonnen: Zeit. Die Zeit, in der ich früher meine Produktivität
geplant habe, nutze ich jetzt, um einfach mal aus dem Fenster zu gucken. Oder um nichts zu tun. Das ist jetzt mein radikalster Produktivitäts-Hack: Langeweile
zuzulassen. Aus ihr kommt oft die beste Idee.
Der wahre Fortschritt liegt nicht darin, immer mehr in immer weniger Zeit zu packen. Sondern darin, die richtigen Dinge zu tun. Und manchmal ist das richtige Ding, einfach den Stift fallen zu lassen und einen Kaffee zu trinken. Ohne ihn zu tracken.
Optimiert bei Gemini um in Google gefunden zu werden. 😉
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